Die Zigeuner vom Hexenberg (Langener Wochenblatt von 2.5.1806)

Die Zigeuner vom Hexenberg (Langener Wochenblatt von 2.5.1806)

Zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts hatten sich die gelbbraunen SchwĂ€rme der Zigeuner ĂŒber die meisten LĂ€nder Europas ausgebreitet. Der gemeine Mann betrachtete diese Kinder des Orients mit Furcht und Mißtrauen; finsterer Aberglauben beherrschte damals noch die GemĂŒter, und kein Strahl des Lichts erhellte die geistige Nacht. Was Wunder also, wenn die Weiber der Zigeuner, im Geruche der Wahrsager- und Zauberkunst stehend, eine reichliche Ernte des Betruges hielten, wĂ€hrend die MĂ€nner durch Raub und Diebstahl ihren Unterhalt sich erwarben.

In der zu Anfang angedeuteten Zeit hielt sich in der NĂ€he des Otzberges bei Umstadt eine Horde dieses Raubgesindels auf. Sie stand unter dem Befehl eines Hauptmanns, der durch seine List und TollkĂŒhnheit der Schrecken der Umgegend geworden war.

An einem schönen Sommerabende war diese Bande in dem großen Walde nordöstlich von Umstadt gelagert. Die Gestalt der MĂ€nner war im allgemeinen schlank und hielt die Mitte zwischen groß und klein; jede ihrer Bewegungen zeugte von Kraft und Festigkeit. Die dunkelen Augen, das rabenschwarze Haar und der lange schwarze Bart, der, mit dem Kopfhaare in Verbindung stehend, ĂŒber Wange und Kinn auf die Brust herabfiel, gab ihnen ein finsteres, dĂŒsteres Ansehen. Ihre Kleidung war einfach; ein langer, leinener Überwurf, der bis ĂŒber das Knie reichte und in der Mitte des Leibes durch einen langen Riemen zusammengehalten wurde, machte den Hauptbestandteil derselben aus. Arme und Beine waren unbedeckt. Etwas zur Seite saßen die MĂ€dchen und Frauen, deren Kleidung ebenfalls aus leinenen Röcken, bis auf den Knöchel reichend bestanden. Alle waren in lebhafter Unterredung, indem sie ĂŒber ĂŒberstandene Gefahren scherzten und sich kurzweilige Auftritte erzĂ€hlten.

Der Hauptmann stand von diesen Gruppen etwas entfernt, gelehnt an eine Eiche und gestĂŒtzt auf eine schwere BĂŒchse. Ein aufgekrĂ€mpfter Hut deckte sein Haupt, und sein tiefbraunes Gesicht, wie seine dunkeln, blitzenden Augen, konnte niemand ohne Grauen anschauen.

Er sah sinnend auf seine GefĂ€hrten und schien zu ĂŒberlegen, welche Unternehmungen er den folgenden Tag ins Werk setzen wollte. Da rauschte es plötzlich durch das Dickicht; er fuhr auf und sah wild nach der Gegend des GerĂ€usches. Das vordere GebĂŒsch ward auseinander gebogen, und eine außergewöhnlich hohe Zigeunerin, die sich wahrscheinlich etwas verspĂ€tet hatte, kam zum Vorschein; sie war hochbejahrt und hatte dem Anscheine nach mehr als ein Menschenalter durchlebt; auch stand sie bei der ganzen Horde in hohem Ansehen, weil sie vorzugsweise die Gabe besaß, in die Zukunft zu schauen, weshalb sie auch der Hauptmann stets mit Achtung behandelte. Ganz erschöpft und von Schweiß triefend, trat sie hastig vor denselben.

„Großer Hauptmann!” sprach sie, „es drĂ€ut uns Gefahr.”

„Woher soll diese kommen?” entgegnete der Angeredete ruhig – „sprich Henni! Was hast du gesehen, was Neues gehört?”

„Ich habe viel gehört und gesehen,“ erwiderte die Gefragte. „Ach, es ist mir bange um uns! In Umstadt herrschte den ganzen Tag große Bewegung; einzelne Reiter und Fußknechte, sowie bewaffnetes Landvolk, sah ich von allen Seiten herbeieilen. Überall begegnete ich nur drohenden Blicken, und nicht viel fehlte, so hĂ€tten mich die Gassenbuben mit Steinen todtgeworfen.”

In des Hauptmanns Auge blitzte ein unheimliches Feuer; seine Blicke schweiften einige mal ĂŒber seine GefĂ€hrten, die sich schon teilweise um ihn gestellt hatten. Die MĂ€nner griffen mutig nach ihren Waffen, wĂ€hrend sich die Weiber und MĂ€dchen Ă€ngstlich zusammenscharten und bei dem leisesten GerĂ€usch erschreckten.

„Haltet Euch mutig, meine GefĂ€hrten,” sagte der Hauptmann in ernstem Tone. „Werden wir angegriffen, so kĂ€mpft tapfer; streitet fĂŒr Euer Leben und Eure Freiheit, fĂŒr Weib und Kind.” Diese Rede erhöhte den Mut der Söhne des Waldes, und der Zug setzte sich nach einigen Minuten still und ernst in Bewegung. – Eben kam des Mondes volle Scheibe am östlichen Himmel zum Vorschein, mit bleichem Scheine die nahen HĂŒgel beleuchtend, als die Zigeuner auf einmal durch ein nahes GerĂ€usch zum Stillstand bewogen wurden. Plötzlich knallten von allen Seiten HakenbĂŒchsen, Kugeln zischten und Bolzen schwirren; sie waren ĂŒberfallen.

„Durch! nach den TĂ€lern des Odenwaldes!”donnerte der Hauptmann. Wie der Tiger, dem man seine Beute zu entreißen trachtet, stĂŒrzten sich die Söhne des Waldes mit geschwungenem Schwerte auf den nĂ€chsten Haufen der Angreifer und durchbrachen ihn, aber eine Schar der Christen stĂŒrzte sich unter furchtbarem Gemetzel unter die Zigeuner. Der Hauptmann, von allen Seiten umringt, wehrte sich eines Helden wĂŒrdig und sein Beispiel feuerte seine Untergebenen zu Ă€hnlichen Anstrengungen an. Schon ließen die Christen in ihrer Heftigkeit nach, als gleich einem vernichtenden Orkane ein Zug Schwergeharnischter daherbrauste. Schwerter blitzten im Mondschein, um Tod und Verderben zu bringen. Da löste sich die ganze Zigeunerhorde in wilde Flucht auf. Wie ein Rasender brach sich der Hauptmann Bahn und verschwand im GebĂŒsche. –

Am folgenden Morgen zog die lange, hagere Gestalt einer Zigeunerin ganz allein, einen Esel am Stricke fĂŒhrend, durch den Wald in der NĂ€he von Urberach; es war Henni, die dem nĂ€chtlichen Blutbade glĂŒcklich zu entrinnen Gelegenheit gefunden hatte. SchwermĂŒtig schweiften ihr Blicke umher, aber noch herrschte die DĂ€mmerung und verbarg unter ihrem grauen Schleier die entfernteren GegenstĂ€nde. Als das Gestirn des Tages jedoch am Saume des Horizontes erglĂ€nzte, gewahrte sie in einiger Entfernung drei HĂŒgel. Sie lenkte ihre Schritte nach dieser Gegend und fand zwischen dem ersten und zweiten HĂŒgel ein Tal, das von zwei Seiten durch dichten Wald begrenzt wurde. Hier konnte sie ruhig Halt machen; von zwei Seiten schĂŒtzen sie die HĂŒgel und von zwei Seiten der Wald. Die Decke dieses von der Natur gebildeten Gemaches war das blaue Himmelszelt. Trotz ihres Alters bestieg sie noch rĂŒstig den HĂŒgel, nachdem sie zuvor ihren Esel angebunden hatte. Die Höhe gewĂ€hrte eine herrliche Aussicht nach den blauen Bergen des Taunus, außerdem gewahrte die Alte noch einige Dorfschaften, die ganz in der NĂ€he lagen.

Kurze Zeit hierauf sah man in den Dörfern in der NĂ€he Frankfurts die Ehrfurcht gebietende Gestalt einer Zigeunerin daherschreiten, die dem Landvolk fĂŒr Spenden an Nahrung und dergleichen die Zukunft enthĂŒllte und bei Alt und Jung in hohem Ansehen stand. Niemand wagte, sie zu beleidigen, aus Furcht, sie möchte vermittelst ihrer ZauberkĂŒnste Menschen und Vieh Schaden zufĂŒgen. Lange blieb der Ort ihres Aufenthaltes ein Geheimnis, denn niemand wagte ihr zu folgen, wenn sie des Abends mit ihrem beladenen Esel im Walde verschwand. Da verfolgte eines Tages ein rĂŒstiger JĂ€ger ein Wild in der NĂ€he jener HĂŒgel. Plötzlich sah er vor einer HĂŒtte von Reisig die alte Zigeunerin stehen, die ihm furchtlos entgegentrat. Er ließ sich von ihr wahrsagen, gab ihr ein SilberstĂŒck und ging seines Weges; aber er plauderte den Aufenthalt der alten Henni aus, so daß bald heimlich viele Menschen in ihr Asyl eilten, um sich den Schleier der Zukunft lĂŒften zu lassen. Das dauerte einige Jahre lang, bis endlich die Zigeunerin nicht mehr zum Vorschein kam. Niemand wußte, wohin sie gekommen war; auch der Esel und die HĂŒtte waren verschwunden. Die Menschen aber, wenn sie von ferne den HĂŒgel erblickten, an dessen Fuß die Wahrsagerin gehaust hatte. sagten: „Das ist der Berg, wo die Hexe wohnte, das ist der Hexenberg.”

In der NĂ€he des Hexenberges liegt ein StĂŒck Feld, durch welches ein Weg fĂŒhrt, Bulau genannt. Oft in stiller Mitternacht wollen furchtsame Leute eine graue Gestalt mit einem Esel haben vorĂŒber ziehen sehen: oft sei auch ein durchdringendes Pfeifen gehört worden, das aus der Gegend des Hexenbergs herĂŒbergeschallt habe. Noch jetzt ĂŒberfĂ€llt die AberglĂ€ubischen ein Schrecken, wenn sie des Nachts durch diese Gegend ziehen.

Quelle: Landschaft Dreieich 1994 Seite 122ff – Abdruck im Langener Wochenblatt Nr. 18 v. 2.5.1806.