Jahreszeitliche Feste – Kindheit in Dietzenbach zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg

Jahreszeitliche Feste – Kindheit in Dietzenbach – zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg

Feste in einem Dorf gaben immer allen Feiernden Gelegenheiten, Neuigkeiten aus­zutauschen, sich zu einem gemĂŒtlichen Beisammensein zu treffen und neue Kontakte zu schließen. Presse, Rundfunk oder gar Fernsehen gab es nur eingeschrĂ€nkt bzw. noch ĂŒberhaupt nicht. Man war auf den ‚Ausscheller‘ angewiesen, der klingelnd durch das Dorf lief, um Neuigkeiten und GemeindeankĂŒndigungen bekannt zu geben.
So boten Feste beliebte Möglichkeiten, der Kontaktaufnahme und des Neuigkeiten­austausches — auch mit Menschen aus den umliegenden Dörfern.

Herr F.

Die wichtigsten Feste waren die gesetzlichen Feiertage, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Die Kerb – auch Kirchweih genannt – war natĂŒrlich ein besonderes Fest! Da war in dem sonst so ruhigen Dietzenbach etwas los. Es kamen die KerbstĂ€nde, Karussell, und eine Schiffsschaukel war auch immer dabei. Besonders die hĂ€uslichen Vorbereitungen waren anstrengend. Da gab es einen guten Braten mit KlĂ¶ĂŸen und Rotkraut. Der Kuchen wurde beim BĂ€cker gebacken. Da roch das ganze Dorf nach frischem Kuchen, denn jede Familie hatte etwas zu backen. Die Leute kamen mit dem Kuchenteig und dem Belag zum BĂ€cker. Der BĂ€cker oder das Hilfspersonal wogen die Teigmenge, gaben es auf ein Blech und wĂ€lzten es aus. Die Kunden taten den Belag darauf, versahen den Kuchen mit einem Namensschild und trugen ihn in die Backstube. Manche Leute machten kein Namensschild an den Kuchen, sondern markierten ihn mit einem Gegenstand, z.B. einer Nussschale. Wenn nun manchmal zwei Kunden dasselbe Zeichen verwendeten, dann konnte es schon einmal zum Streit kommen, wem welcher Kuchen gehörte.
Das war teilweise sehr hektisch: manche mussten schon morgens um vier Uhr beim BĂ€cker sein, damit die Nachfolgenden auch noch rechtzeitig fertig wurden.
An diesem Tag kam gewöhnlich sehr viel Besuch. Ich erinnere mich an die Verwandten und Bekannten, denen der Kuchen vorgesetzt wurde. Jeder hatte einen Teller und die KuchenstĂŒcke wurden in lĂ€ngliche Streifen geschnitten und wie ein Holzstapel aufeinander gesetzt. Der große Teller kam in die Mitte des Tisches.
Am Abend kam dann das Geschlachtete auf den Tisch, wenn denn schon geschlachtet war. Meist gab es Kartoffelsalat mit Wurst oder Eiern.

FĂŒr die Jugend war in diesen Tagen besonders die Tanzmusik interessant. Am Kerbsonntag begann um 15.00 die Tanzmusik. Es gab viele Tanzlokale, die man besuchen konnte: die Harmonie, der ‚neue Löwe‘, der Wingertsberg, der Milchhof, die ‚Krone‘. Hier konnte man Tanzen und sich vergnĂŒgen. Das Schöne an diesen Lokalen war, man brauchte keinen Eintritt zu bezahlen! Man ging hin, bezahlte fĂŒr den Tanz 10 Pfennig. Wenn man dann eine Gesellschaft gefunden hatte und es war ein gemĂŒtliches Beisammensein, so blieb man und kaufte sich ein TanzbĂ€ndchen. Diese gab es fĂŒr 1 Mark oder 1,50 Mark fĂŒr zwei Tage. Das steckte man sich ans Revers und brauchte dann keine 10 Pfennig mehr bezahlen. Meistens trug man an diesen Tagen auch stolz neue Kleidung — die Herren einen Anzug, die Frauen ein neues Tanzkleid.
Ich besuchte diese Feste mit 14 Jahren, also nach meiner Schulzeit. Da saß man am Rand, schaute zu und es hieß immer: „Ihr mĂŒsst euch die Ă€lteren MĂ€dchen suchen, die können meist schon besser tanzen.“ Und wir wollten es ja lernen. Man ging auf die Tische zu, machte eine Verbeugung. Daraufhin wandten sich einige immer ab und die anderen tuschelten: „Gucke emal da kimme die lschel widdr.“
Trotzdem fanden wir immer welche und es wurde auch zu Hause mit meinen Schwestern tĂŒchtig geĂŒbt.

Über den Kerbochsen: Am Montag vor der Kerb wurde der Kerbochse durch das Dorf gefĂŒhrt. Das ĂŒbernahm ein Metzger. Da wurde zwischenzeitlich angehalten, ein GesprĂ€ch gefĂŒhrt: „Was fĂŒr ein wunderbares Tier es diesmal wieder sei“, Dazu reichte man gerne einen Apfelwein aus dem Fenster. Damit machte man den Leuten schon Geschmack auf den Kerbbraten.

Mein Vater erzĂ€hlte, dass er frĂŒher im alten ‚Löwen‘ Stammgast war. Hier spielten sie oft Karten. Etwas von dem Gewinn wurde immer in einen Sparkasten geworfen, der an der Wand hing. Dieser hatte viele Schlitze mit FĂ€chern. Zur Kerbzeit wurde der Kasten dann geöffnet, und jeder erhielt sein Erspartes. So hatte mein Vater sein Kerbgeld. Das war ein ‚Fuchs‘, also ein GoldstĂŒck, das da zusammen kam.

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Besondere Anlass gerade fĂŒr Kinder: Die „Kerb“ auf dem Harmonieplatz

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„Kerbburschen auf dem Pferdefuhrwerk mit geschmĂŒcktem Kerbbaum, im alten „Milchhof“ in der Hammannsgasse

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Der Eismann zieht durch die Straßen. In der DarmstĂ€dter Straße in der NĂ€he der „Alten Schule“

Frau R.

Der alte ‚Löwe‘ stand frĂŒher in der DarmstĂ€dter Straße, war das 2. Rathaus, in dem Familie Heberer nach einem Umbau eine Gastwirtschaft betrieb. Nach dem Neubau in der Rathenaustr. / Löwenstraße zog der ‚alte Löwe‘ dorthin um.

Herr F.

Meistens tranken wir Coca Cola und Wasser, Apfelwein. Aber an der Kerb probierte man auch schon mal ein Bier. Apfelwein fanden wir nicht so interessant, weil man das eh zu Hause hatte. Alle haben ja selbst gekeltert. So weit ich weiß, hat ein Bier damals 18 Pfennige gekostet. Das klingt nicht viel, aber das Geld war damals natĂŒrlich sehr knapp. Über das Jahr sparte man, damit man an der Kerb etwas Geld hatte.
Eine Begebenheit fÀllt mir ein:

Man war zwar an der Kerb immer echt fein gekleidet, aber die Besucher aus Heusenstamm waren immer noch feiner. Da war man schon etwas neidisch: Man sagte: „Gucke emal, die sind zwar fein gekleidet, haben aber kein Geld in der Tasche. Die klimpern mit ihrem HausschlĂŒssel.“ Man unterstellte den HeusenstĂ€mmern, sie wĂŒrden damit angeben wollen. 


Frau R.




Zur Kerbzeit war es auch sehr schön: Donnerstags kamen schon die Kerbwagen, die Schausteller. Diese bauten ihre Wagen auf dem Harmonieplatz auf. Das war ein Erlebnis, denn wir durften bis „ultimo“ um die „KerbwĂ€ge“ spielen. Das war schön. Zur Kerb gab es meistens neue Kleider, ist dann – neu eingekleidet – zur Patin oder dem Patenonkel und hat sich das Kerbgeld geholt (20, 50 Pfennig oder 1 Mark, je nachdem wie betucht die einzelnen Familien waren). Wenn wir kein Geld hatten, aber in der ‚Reitschule‘ Karussell fahren wollten, sind die Kinder immer, wenn der Aufseher nicht hinschaute, aufgesprungen und mitgefahren. Ich konnte das immer nicht, weil das Karussell von einem Pferd gezogen wurde, das immer rundherum laufen musste. Das Tier tat mir immer so Leid. Daher bin ich immer zur Schiffsschaukel.
Alle Metzger haben ihren geschmĂŒckten Kerbochsen durch das Dorf gefĂŒhrt. Der tat mir auch immer so Leid.
Zum „Kerbdanz“ ging ich logischerweise immer in die ‚Linde‘ – andere auf den Wingertsberg. Der große Saal im Löwen war immer „gestopptevoIl“. Drei Tage wurde Kerb gefeiert. Hier feierte man nicht getrennt nach Ober- und Unterdorf, sondern mehr nach Vereinszugehörigkeit. In der ‚Linde‘ feierte immer der ‚SĂ€ngerkranz‘, im ‚Löwen‘ der ‚Frohsinn‘. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der ‚Krone‘ Tanzmusik war. Im ‚Milchhof‘ in der Hammansgasse wurde auch musiziert.

Hier berichtet Frau R. ebenfalls ĂŒber die Backzeremonien und nennt die BĂ€ckereien Fey, Krapp‚ Baum, Bach. Die ganze Familie kam zur Feier, es wurde aufgetischt, was das Haus zu bieten hatte.
Ich kann mich nicht erinnern, dass die Dietzenbacher ein eigenes Backhaus hatten, oder zu Hause in den Höfen Brot und Kuchen gebacken wurde, wie das im Odenwald, Wetterau oder dem Vogelsberg ĂŒblich war. Hier ging man zum BĂ€cker und ließ gegen ein Entgeld backen. …

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Gasthaus „Zur Krone“ in der Bahnhofstraße 9 (Ecke SchĂ€fergasse) Anf. der 20er des 20. Jh.

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Gasthaus „Zum Löwen“, gegenĂŒber der „Alten Schule“ Jahr 1923

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GaststÀtte auf dem Wingertsberg Jahr 1919

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Gasthaus „Zum Adler“ in der Bahnhofstraße 59 Jahr 1910 – In den GasthĂ€usern fand das vielfĂ€ltige Vereinsleben mit seinen Festen statt.

Alle Interviewpartner schildern sehr ausfĂŒhrlich in Dietzenbach ĂŒbliche Feste, wie Weihnachten, Ostern, Kerb (27. Oktober: JĂ€hrlich wiederkehrendes Fest, anlĂ€sslich der Kirchweihe 1754). Gerade dieses Fest bot jungen Menschen in Dietzenbach und aus der Umgebung Gelegenheit, andere Menschen in ihrem Alter kennen zu lernen. Nicht selten bahnten sich hier spĂ€tere Ehen an. DafĂŒr zog man ‚gute Kleidung‘ an, um zu gefallen und zu zeigen, ‚was man hatte‘ — sprich zu imponieren.





Die Namen der Beteiligten haben wir aus DatenschutzgrĂŒnden abgekĂŒrzt.

Quelle:

Kindheit in Dietzenbach – Hessen zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg
Schriftreihe: Projekte des Arbeitskreises „Schule und Museum“, Dietzenbach
Herausgegeben vom Arbeitskreis „Schule und Museum“ und Heimatmuseum Dietzenbach DarmstĂ€dter Straße 7+11 63128 Dietzenbach TeI.: 06074-41742

Text: Matthias Burgey
Layout: Maria Polatowski-Ruprycht
2006 Dietzenbach, Heimatmuseum Dietzenbach
Arbeitskreis „SchuIe und Museum“